Frankfurter Rundschau vom 23. April 2015
Beklemmend wie am ersten Tag: Max Frischs Klassiker
„Andorra“ in den Landungsbrücken in Frankfurt, mit
Schülerinnen und Schülern des „theater et zetera“. Ein
Lehrstück für Publikum und Akteure.
Woher wisst ihr eigentlich alle, wie der Jud’ ist?“ Neben den vielen
Fragen, die Max Frisch mit seinem Drama „Andorra“ aufwirft, ist
diese sicherlich eine der drängendsten. Andri, der Protagonist,
wirft sie seinen Mitmenschen an den Kopf, schleudert ihnen damit
seine vermeintliche Identität entgegen, an der er so entschieden
festhält, dass es ihn am Ende das Leben kostet. Das Stück,
uraufgeführt 1961 im Schauspielhaus Zürich, prägte wie kaum ein
anderes den Umgang mit der Judenverfolgung in der
Nachkriegszeit. Bei der Aufführung des „theater et zetera“ wird
deutlich, wie wenig wir uns von den Schrecken, die Frisch in den
sechziger Jahren malte, entfernt haben.
Die Schauspieler, allesamt zwischen 12 und 16 Jahre alt, winden
sich, grämen sich, bespucken sich, und vor allem misstrauen sie
sich. Auf der Bühne in den Landungsbrücken im „wilden
Frankfurter Westen“, wie die Gründer es nennen, wird klar: Das,
was Vorurteile, Ängste und Unwissen mit den Menschen machen,
ist heute nicht anders als in den Jahren, in denen der Judenhass
in Deutschland und Europa so groß war wie nie.
Er kann es nicht mehr hören
„Ich kann es nicht mehr hören, überall höre ich nur Jud’, Jud’,
Jud’!“, schimpft der Lehrer Can, der Vater des angeblichen Juden
Andri – der ist eigentlich sein uneheliches Kind, und er gab nur
vor, er sei ein jüdisches Findelkind, dessen er sich angenommen
habe. Can ist entsetzt über die Ignoranz seiner Landsleute und
deren diffuse Angst vor dem Fremden, dem Feind und am Ende
auch dem Freund.
Die Aufführung ist ein Lehrstück für das Publikum und dient sicher
auch der Bildung der Schülerinnen und Schüler, die im Begleitheft
darstellen, wie schwer manchmal die Identifikation mit den Rollen
fiel. Da ist der verachtende und verachtenswerte Soldat Peider
oder der steife und unbelehrbare Tischlermeister Prader, die, in
ihren Urteilen über das Menschliche unabrückbar gefangen, auch
am Ende, als alles zu spät ist, nicht zweifeln.
„Ich, ich habe nicht gewusst...“ – dieser Satz hallt wieder und
immer wieder durch den kleinen Saal, wenn die Andorraner zur
Rechenschaft gezogen werden sollen. Untermalt von einem
seltsamen Brummen, das klingt wie eine Störung des Mikrofons,
gräbt sich diese Kakophonie in die Ohren der Zuschauer, doch auf
der Bühne scheint niemand sie zu hören. Und so trifft auch
niemanden die Schuld, denn die ist kollektiv und ein jeder kann
sich in der Masse verstecken.
Von Elena Müller