Georg Bachmann
Landungsbrücken Frankfurt
21. April 2015
Spielleitung / Regie
Premiere
Lea Friedmann / Juliane Bernhard
Felix Bieske
Lichteinrichtung
Assistenz
Spielerinnen und Spieler
Eine Kooperation zwischen theater et zetera und der
Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V.
Adrien Einecke / Amelie Karl / Benjamin
Förtsch /Bersun Boztepe / Carla Volk / David
Ziegler / Fee Forberich / Felix Simon / Jan
Gottwald / Joshua Alberti / Joshua Ruddock
Lara Tillner / Lea Segieth / Lena Felberbauer
Leonard Gürtler / Sofia Janßen-Ortiz / Sven
Göbel / Gesa Brieskorn
Dramatisierung des gleichnamigen
Romans von Max Frisch
Andri, ein junger Mann, wird von seinem Vater
unehelich mit einer Ausländerin gezeugt und von
diesem als jüdischer Pflegesohn ausgegeben. Die
Bewohner Andorras begegnen Andri permanent mit
Vorurteilen, so dass er, selbst nachdem er seine wahre
Herkunft erfahren hat, an der ihm zugewiesenen
jüdischen Identität festhält. Es folgt seine Ermordung
durch ein rassistisches Nachbarvolk. Nachdem die
Andorraner alles geschehen ließen, rechtfertigen sie ihr
Fehlverhalten und ihre Feigheit vor dem Publikum und
leugnen ihre Schuld.
18 Jugendliche im Alter von 14 – 16 Jahren haben sich
mit dem Bühnenstück von Max Frisch
auseinandergesetzt und zeigen „Andorra“ nun an den
Landungsbrücken Frankfurt.
Das Ensemble präsentiert “Andorra” als ein
soziologisches Modell, von Theaterfiguren
durchgespielt, als eine Versuchsanordnung zwischen
Menschengruppen, die ihre eigenen Probleme nur
durch Projektionen bewältigen können.
Die Figuren aus „Andorra“ verdeutlichen mit welcher
Zwangsläufigkeit bestimmte soziale Bedingungen –
Orte, an denen wir alle leben – kollektive Vorurteile
und entsprechende Gewalthandlungen hervorbringen
können, und welche Bedürfnisse, Empfindungen und
Phantasien auch die Jugendlichen dafür anfällig
machen (können).
Dabei bleibt „Andorra“ immer ein Theater-Spiel, eine
Fiktion. Aber es beschreibt auch eine Vor-Wirklichkeit,
die in der Gefahr ist, sich außerhalb der Bühne zu
realisieren.
Frankfurter Rundschau
vom 23. April 2015
Von Elena Müller
Beklemmend wie am ersten Tag: Max Frischs Klassiker
„Andorra“ in den Landungsbrücken in Frankfurt, mit
Schülerinnen und Schülern des „theater et zetera“. Ein
Lehrstück für Publikum und Akteure.
Woher wisst ihr eigentlich alle, wie der Jud’ ist?“ Neben den vielen
Fragen, die Max Frisch mit seinem Drama „Andorra“ aufwirft, ist
diese sicherlich eine der drängendsten. Andri, der Protagonist, wirft
sie seinen Mitmenschen an den Kopf, schleudert ihnen damit seine
vermeintliche Identität entgegen, an der er so entschieden
festhält, dass es ihn am Ende das Leben kostet. Das Stück,
uraufgeführt 1961 im Schauspielhaus Zürich, prägte wie kaum ein
anderes den Umgang mit der Judenverfolgung in der
Nachkriegszeit. Bei der Aufführung des „theater et zetera“ wird
deutlich, wie wenig wir uns von den Schrecken, die Frisch in den
sechziger Jahren malte, entfernt haben.
Die Schauspieler, allesamt zwischen 12 und 16 Jahre alt, winden
sich, grämen sich, bespucken sich, und vor allem misstrauen sie
sich. Auf der Bühne in den Landungsbrücken im „wilden
Frankfurter Westen“, wie die Gründer es nennen, wird klar: Das,
was Vorurteile, Ängste und Unwissen mit den Menschen machen,
ist heute nicht anders als in den Jahren, in denen der Judenhass in
Deutschland und Europa so groß war wie nie.
Er kann es nicht mehr hören
„Ich kann es nicht mehr hören, überall höre ich nur Jud’, Jud’,
Jud’!“, schimpft der Lehrer Can, der Vater des angeblichen Juden
Andri – der ist eigentlich sein uneheliches Kind, und er gab nur vor,
er sei ein jüdisches Findelkind, dessen er sich angenommen habe.
Can ist entsetzt über die Ignoranz seiner Landsleute und deren
diffuse Angst vor dem Fremden, dem Feind und am Ende auch dem
Freund.
Die Aufführung ist ein Lehrstück für das Publikum und dient sicher
auch der Bildung der Schülerinnen und Schüler, die im Begleitheft
darstellen, wie schwer manchmal die Identifikation mit den Rollen
fiel. Da ist der verachtende und verachtenswerte Soldat Peider
oder der steife und unlehrbare Tischlermeister Prader, die, in ihren
Urteilen über das Menschliche unabrückbar gefangen, auch am
Ende, als alles zu spät ist, nicht zweifeln.
„Ich, ich habe nicht gewusst...“ – dieser Satz hallt wieder und
immer wieder durch den kleinen Saal, wenn die Andorraner zur
Rechenschaft gezogen werden sollen. Untermalt von einem
seltsamen Brummen, das klingt wie eine Störung des Mikrofons,
gräbt sich diese Kakophonie in die Ohren der Zuschauer, doch auf
der Bühne scheint niemand sie zu hören. Und so trifft auch
niemanden die Schuld, denn die ist kollektiv und ein jeder kann
sich in der Masse verstecken.
ERNST-LUDWIG-SCHULE:
Andorra ist auf Sand gebaut. Zumindest ist die Bühne in der
großen Halle der Landungsbrücken am Westhafen Frankfurts, auf
der uns eine Vorstellung von Max Frischs bekanntem Stück
erwartete, von einer dicken Sandschicht bedeckt. Man könnte hier
sofort an eine Beach Party denken, aber schon der Weg durch die
düsteren Gänge des ehemaligen Lagergebäudes in den
schummrig beleuchteten Saal stimmte uns darauf ein, dass uns
etwas weitaus Bedrückenderes erwarten würde.
Der Sand bildet den mürben Grund für Lügen, Selbstbetrug und
tödliche Vorurteile, aus denen Andorra erbaut ist. Gleich zu
Beginn der Vorführung führt uns ein Chor mit blutrot und weiß
verzerrten Clownsfratzen vor Augen, dass dieses Andorra ein
(Sandkasten?) -Modell unser aller Abgründe ist. Andorra findet
sich überall und bleibt, auch wenn es bereits 1961 zum ersten
Mal in Zürich aufgeführt wurde, immer aktuell. Wer denkt dieser
Tage nicht sofort an die Vorbehalte gegen „die Fremden“, die bei
seltsam anmutenden Demonstrationen von PEGIDA-Anhängern
verlautbart werden?
Das Jugendensemble theater et zetera, das unter der Leitung von
Georg Bachmann dieses Stück innerhalb von nur neun
Wochenendworkshops inszeniert hat, setzt diese Modellhaftigkeit
konsequent um:
So kommen zum Beispiel die jungen Schauspieler im Freizeit-
Outfit auf die Bühne und kletten sich erst dort die Kostüme vor
die Brust. Auch schaffen die skurrilen Lügennasen, die alle
Andorraner tragen – außer ihrem Opfer Andri – kritische Distanz.
Diese Nasen sind, wie uns das Ensemble später bei der
Nachbesprechung verriet, eine verfremdende Umkehrung der
grotesken Rassenvorurteile gegen Juden, die von den
nationalsozialistischen Eugenikern verbreitet wurden. Hier sind es
nun die Andorraner, die das Stigma tragen, nicht der Junge, den
sie zum„ Jud“ machen. Erst wenn er ihr Vorurteil annimmt, wird
er auch äußerlich einer von ihnen.
Diese gewagten Stilmittel machten uns Zuschauer auf das
bevorstehende Schauspiel neugierig. Mit etwa 130 Schülerinnen
und Schülern aus der E-Phase und einer neunten Klasse fuhren
wir in drei Bussen am 23. April zu einer Sondervorstellung nur für
die Ernst-Ludwig-Schule nach Frankfurt zu den Landungsbrücken.
Der Ausflug ist Teil des TuSch-Projekts, an dem die ELS seit drei
Jahren teilnimmt. TuSch heißt Theater und Schule und ist eine
Kooperation, die eben nicht nur Theater in die Schule, sondern,
so wie bei dieser Gelegenheit, eben auch die Schule ins Theater
bringt.
Georg Bachmann, der Leiter dieser Inszenierung von theater et
zetera ist im Rahmen von TuSch auch an der ELS tätig, wo er
bereits einen Maskenworkshop leitete, Kurse im Darstellenden
Spiel professionell unterstützte, an der Erarbeitung einer
Szenischen Interpretation von „Andorra“ im Deutschunterricht
mitarbeitete und in einer Theater AG zur Zeit mitten dabei ist.
Vielleicht hat diese Arbeit ja einen Anreiz gegeben, sich nun mit
einer vollständigen Inszenierung Andorras zu beschäftigen. Hier
schließt sich der Kreis, denn viele der Zuschauer der heutigen
Vorführung haben letztes Schuljahr bei der szenischen Arbeit an
Andorra in der Schule mitgewirkt und sind somit nun „Experten“.
Es sind aber mit Lea Segith (9c) und Juliane Bernhard (E-Phase)
auch aktuell zwei Schülerinnen der ELS an der Produktion in den
Landungsbrücken beteiligt.
Das Ensemble besteht, in variierender Besetzung vorwiegend aus
Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 12 und 16 Jahren,
die teilweise ganz frisch dabei sind oder schon Erfahrung bei den
letzten Produktionen “Die Aschenputtler”, „Krabat“ und „Peter
Pan“ gesammelt haben.
Besonders überzeugend trat der Soldat Peider als Gegenspieler
der Hauptfigur Andri auf, indem er diesen nicht als tumber
Kraftprotz sondern mit hinterhältiger Intelligenz bedrohte.
Erschreckend eindrucksvoll ließ uns Zuschauer auch der Pater
eiskalte Schauer den Rücken herunterlaufen, wenn er Andri mit
langen Fingern zudringlich betastend dessen Selbstwertgefühl
brach. Ebenso frisch wirkte auch die Interpretation des in
Alkoholsumpf und Selbstmitleid ertrinkenden Lehrer Can, als er
bei einem Tangotanz mit dem Tischler eine Lehrstelle für seinen
vermeintlich jüdischen Pflegesohn Andri herausschlug.
Das Stück kulminierte in der „Judenschau“, die sich durch
zischend einströmenden Nebel ankündigte, welcher sehr
unterschiedliche beklemmende Assoziationen bei den Zuschauern
auslöste. Den einzigen erholsamen Gegenpol zu den bedrohlichen
Handlungsträgern und Szenen bildete das lebendige Orchestrion
(oder Jukebox): Nachdem es die Münzen, mit denen es von Andri
gefüttert worden war, aufgegessen hatte, wiegte es immer wieder
genussvoll den Kopf zu der herzzerreißenden Musik, mit der Andri
vergeblich die Bedrängnis in seiner andorranischen Heimat
vergessen machen wollte.
Die vielen positiven Rückmeldungen aus den Deutschkursen und
Klassen zeigten, dass das Stück allseits sehr gut angekommen ist
und zum Nachdenken provozierte. Vielfach wurde der Wunsch
nach baldiger Weiterführung derartiger Theaterexkursionen
geäußert.
Peter Claus
Landungsbrücken Frankfurt 21. April 2015
Für ein schneeweißes Andorra
130 Schüler der ELS reisen nach ‚Andorra‘